Sonntag, 10. Juli 2011

Beweise in den Naturwissenschaften

Zu häufig kommt es vor, dass in Bezug auf die Richtigkeit eines Sachverhalts Aussagen getroffen werden wie "das ist wissenschaftlich bewiesen" oder "das ist wissenschaftlich nicht bewiesen". Doch tatsächlich sind beide Aussagen unsinnig, da sich wissenschaftlich (im engeren Sinne naturwissenschaftlich) prinzipiell nichts beweisen lässt!
Die Gründe dafür, warum das so ist, sind aber leider nicht unbedingt offensichtlich. Um zu verstehen warum sich naturwissenschaftlich nichts beweisen lässt und welchen Sinn Naturwissenschaften dann überhaupt noch haben, muss zunächst geklärt werden was ein Beweis überhaupt ist.


Exkurs: Beweise in der Logik

Zunächst ist festzuhalten:

i) Ein Beweis ist eine logische Kette (Herleitung), die ausgehend und basierend auf Axiomen (unabgeleitete Aussagen) einen Zusammenhang zeigt oder eine Aussage als wahr oder auch als falsch ausweist.
ii) Eine bewiesene Aussage unterscheidet sich von einer unbewiesenen dadurch, dass bei Erfüllung der notwendigen Rahmenbedingungen (Voraussetzungen, unter denen der Beweis geführt wurde) die bewiesene Aussage immer korrekt ist, ohne Ausnahme!
iii) Im Rahmen einer Beweisführung dürfen nur Axiome, zusätzliche Definitionen (die widerspruchsfrei und eindeutig sein müssen) und andere bereits bewiesene Aussagen verwendet werden.

Der relevante Punkt ist hier, dass sich die logische Kette der Beweisführung ausschließlich innerhalb eines Gebäudes von Definitionen befindet! Als unmittelbare Konsequenz können deshalb nur Aussagen bewiesen werden, die sich innerhalb des Kontexts dieses Gebäudes befinden. Bewiesene Aussagen können das Definitionsgebäude damit also ebenfalls nicht verlassen.

Echte Beweise, also Aussagen, die immer und ausnahmslos korrekt sind, kennen wir nur aus der Mathematik und der Logik. Da die Mathematik ein Gebäude ist, das auf dem Fundament der Logik steht, ist es am einfachsten das Prinzip des Beweises als Beispiel an Letzterem zu verdeutlichen.


Beispiel:

Die Vorraussetzung für die Existenz von Beweisen ist ganz allgemein ein Gebäude aus (also eine Menge von) Definitionen. Im Falle der Logik müssen daher zunächst einige Begriffe definiert werden.
Hinweis: Die im Folgenden angegebenen Definitionen und Begriffe entsprechen nicht notwendigerweise denen, die im entsprechenden Fachgebiet etablierten sind!

Wahrheitswert: Ein Wahrheitswert wird definiert als ein abstrakter Zustand, der entweder "wahr" oder "falsch" sein kann.
Logische Variable: Eine logische Variable kann definiert werden als ein abstrakter Kontainer für Wahrheitswerte. Ein solcher "Kontainer" enthält immer einen Wahrheitswert, d.h. sein "Inhalt" ist immer entweder "wahr" oder "falsch" und niemals undefiniert (leer).
Als Symbolik verwendet man häufig arabische Großbuchstaben, also A, B, C ...
Logische Funktion: Eine Logische Funktion wird definiert als logische Variable, deren Wert von beliebig vielen logischen Eingangsvariablen und einer festen Abbildungsregel abhängt. Diese Regel muss für alle möglichen Kombinationen von Eingangswerten einen Wahrheitswert liefern (wobei die Anzahl der Eingangsvariablen auch fest sein kann, d.h. die Abbildungsregel muss nicht notwendigerweise für beliebig viele Eingänge formuliert werden).
Logisches NICHT: Das logische NICHT wird definiert als logische Funktion, die von genau einer Eingangsvariablen abhängt. Die Funktion ist "wahr", wenn die Eingangsvariable "falsch" ist und "falsch", wenn die Eingangsvariable "wahr" ist.
Logisches UND: Das logische UND wird als logische Funktion definiert, die von mindestens zwei Eingangsvariablen abhängt. Die Funktion ist "wahr", wenn alle Eingangsvariablen "wahr" sind. Andernfalls ist die Funktion "falsch".
Logisches ODER: Das logische ODER wird definiert als logische Funktion, die von mindestens zwei Eingangsvariablen abhängt. Die Funktion ist "wahr", wenn mindestens eine Eingangsvariable "wahr" ist. Sie ist nur dann "falsch", wenn alle Eingangsvariablen "falsch" sind.

Mit dieser Grundausstattung an Definitionen, kann nun im Rahmen dieser Definitionen gearbeitet werden. Zuvor konnten wir von "Logik" gar nicht wirklich sprechen, da noch nicht klar war, was darunter zu verstehen ist. Die aufgelisteten Definitionen führen nun aber dazu, dass ganz genau festgelegt ist, welcher Begriff was bedeutet. Entsprechend darf innerhalb dieses Definitionsgebäudes auch nicht mit Begriffen argumentiert werden, die nicht definiert wurden!

Betrachtet wird nun ein logisches UND mit zwei Eingangsvariablen A und B:


Der Ausdruck "X=( )" bedeutet (eigentlich müsste das zunächst auch noch definiert werden, aber ich will hier nun auch kein Buch schreiben und die Schreibweise sollte allgemein verständlich sein), dass der logischen Variablen X der Wert der logischen Funktion zugewiesen wird, die innerhalb der Klammern angegeben ist.
In diesem Fall ist das "A&B", also das logische UND, welches von genau zwei logischen Variablen A und B abhängt. Also ist X, gemäß der Definition des logischen UND, genau dann "wahr" wenn A und B "wahr" sind. Andernfalls ist X "falsch".

Nun behaupten böse Zungen, dass gilt:


wobei der senkrechte Strich für ein logisches ODER und der waagerechte Strich mit Haken für das logische NICHT steht.

Diese Behauptung ist nun eine Aussage, die sich vollständig innerhalb des Definitionsgebäudes der Logik befindet und die sich dementsprechend beweisen oder widerlegen lässt. In diesem Fall ist die Aussage "wahr"!

Beweis:
Am einfachsten lässt sich diese Aussagen beweisen, indem man sich die sogenannten Wahrheitstabellen anschaut. Darin werden alle Kombinationsmöglichkeiten der Eingangswerte aufgelistet und der Wert der logischen Funktion, der sich dafür ergibt, eingetragen. Für das logische UND ergibt sich:


Verknüpft man die Eingangsvariablen mit dem logischen NICHT und verknüpft das Ergebnis mit dem logischen ODER, ergibt sich entsprechend:


Man sieht sofort, dass die Ergebniswerte für X hier genau der Negation aus der ersten Tabelle (für das logische UND) entspricht, womit die behauptete Aussage zweifelsfrei bewiesen ist.

Diese Aussage kann man also künftig auf alle Kombinationen von logischen Funktionen anwenden und sich sicher sein, dass die Aussage immer korrekt ist. Noch interessanter ist, dass sich eine solche Aussage als logische Aussage auffassen lässt, die entsprechend nur "wahr" oder "falsch" sein kann. Konsequenterweise können logische Aussagen also auch auf logische Aussagen angewendet werden! Indem man dies praktiziert baut man sich nach und nach ein Gebäude auf, welches in sich abgeschlossen und konsistent ist und welches vollständig auf einem defnierten Fundament steht! Nur deshalb existieren in einem solchen Gebäude echte Beweise, aber eben nur innerhalb des entsprechenden Gebäudes!


Beweise in den Naturwissenschaften

... gibt es nicht! Der Grund dafür ist simpel:

In den Gebäuden der Naturwissenschaften existiert kein definiertes Fundament!

Und genau das ist gerade der fundamentale Unterschied zu den Geisteswissenschaften: In den Naturwissenschaften wird nicht innerhalb eines abstrakt definierten Gebäudes gearbeitet, sondern man beschäftigt sich mit einem Gebäude, welches bereits existiert (der Natur) und dessen Fundament unbekannt ist!

Sinn und Zweck der Naturwissenschaften ist es gerade, dieses Fundament so gut wie möglich zu erforschen. Die einzige Möglichkeit das zu tun besteht darin, Annahmen darüber zu treffen, wie dieses Fundament beschaffen ist und darauf basierend mathematische Modelle zu bilden. Durch Messungen können diese Modelle schließlich in ihren Aussagen qualifiziert werden. Stimmen die Aussagen (bzw. Vorhersagen) eines Modells gut mit den Messdaten überein, so hat man sich dem realen Fundament der Natur schon ein klein wenig genähert. Und je geringer die Abweichungen des Modells von der Wirklichkeit sind, desto näher befindet man sich mit seinen Modellannahmen an der Wirklichkeit. Doch selbst bei exakter Übereinstimmung von Modellvorhersage und Messung, können die Annahmen des Modells nicht als (im engeren Sinne) "bewiesen" angesehen werden, denn es sind und bleiben Annahmen!

Dennoch:
Die getroffenen Annahmen sind eben nicht blanke Hirngespinnste, willkürlich oder reine Phantasterei! Denn alle aus den Annahmen folgende Aussagen müssen überprüfbar sein und ein Stück Realität beschreiben. Andernfalls wäre eine solche Annahme sinnlos, da es gerade darum geht die Realität so gut wie möglich zu beschreiben und die Annahmen sukzessiv zu korrigieren, um dadurch dem unbekannten Fundament der Natur näher zu kommen. Und damit das funktioniert, müssen insbesondere die Annahmen selbst (zumindest indirekt) falsifizierbar sein!


Keine Beweise, sondern Belege!

In der Wissenschaft spricht man deshalb nicht von Beweisen, sondern von Belegen (engl: evidence)!
Ein Modell gilt als belegt, wenn alle Aussagen des Modells widerspruchsfrei sind und durch Beobachtung bzw. Messung eine (im Rahmen der technisch möglichen oder angestrebten Messgenauigkeit) Übereinstimmung mit der Realität nachgewiesen und von der wissenschafltichen Community anerkannt wurde.

Beispiel:
Das 1913 von Niels Bohr vorgestellte Atommodell (das Bohrsche Atommodell [1]) konnte erstmals die Existenz der Spektrallinien des Wasserstoffs erklären, die zuvor in diversen Experimenten entdeckt wurden. Die wesentliche Modellannahme, dass sich die Elektronen auf stabilen diskreten Bahnen um den Atomkern bewegen, wurde durch diese Beobachtungen motiviert.
Durch zahlreiche Experimente, insbesondere dem Frank-Hertz-versuch [2], wurde belegt, dass diese Annahme zu korrekten Vorhersagen im Experiment führt, weshalb sich das Bohrsche Atommodell erfolgreich etabliert hat und sogar heute noch in der Mittelstufe gelehrt wird.

Dennoch ist ein Beleg aber nun kein Beweis! Deshalb ist es auch nicht überraschend, dass das Bohrsche Atommodell in der Wissenschaft längst durch das Orbitalmodell [3] ersetzt wurde, da insbesondere die Beobachtungen Werner Heisenbergs die Vorstellung von stabilen Bahnen der Elektronen um den Atomkern widerlegt haben. Die Modellannahmen und damit das Modell selbst, wurden auf diese Weise korrigiert, so dass der durch neue Beobachtungen plötzlich vorhandene Widerspruch aufgehoben wurde.

Wichtig zu bemerken ist an dieser Stelle, dass das Orbitalmodell auch all das erklären kann, was auch das Bohrsche Atommodell erklären konnte. Zusätzlich aber besteht (bislang) kein Widerspruch mehr zu Beobachtungen in Experimenten und es werden noch weitere Phänomene (insbesondere in der Chemie) erklärt, die das Bohrsche Atommodell nicht erklären konnte.
Der Grund, warum das Bohrsche Atommodell trotzdem noch immer in Schulen gelehrt wird ist schlicht, weil das Orbitalmodell für Schüler diesen Alters im Detail zu kompliziert ist und weil die Bohrsche Vorstellung des Atoms für das grundlegende Verständnis der Chemie völlig ausreichend ist (und weil die im Widerspruch zum Modell stehenden Phänomene in der Mittelstufe keine Rolle spielen). Erst in der Oberstufe erhalten die Schüler eine (oberflächliche) Einführung in das Orbitalmodell. Aber erst wenn Jemand ein entsprechendes Studium durchläuft werden die Details so wichtig, dass solche Modelle mit all ihren mathematischen Unannehmlichkeiten gelehrt werden müssen.